Blanker Horror

Winterstein-Theater wird zur Lasterhöhle

Auch das noch: Horror in Annaberg, genauer gesagt im Winterstein-Theater. Und alle gehen hin. Da kommen Leute in schrillem Outfit, mit Konfetti, Klopapier, Leuchtstäben und so manch anderen Utensilien. Sie benehmen sich absolut nicht theatergerecht, stören den Erzähler auf der Bühne, rufen und zischen mitten in der Vorstellung … – und alle haben Spaß!!!

Schließlich erleben die Zuschauer das Grusel-Musical „The Rocky Horror Show“. Für die Besucher, die das abgefahrene experimentelle Mitmach-Stück noch nicht kennen sollten, ist es sicher etwas gewöhnungsbedürftig. Aber spätestens nach dem ersten Schock greift (meist) das Rocky-Fieber um sich. Alle anderen sind sowieso begeistert von dem Kult-Rock-Musical von Richard O`Brien.

1973 hatte es der damals wenig beschäftigte Schauspieler erdacht und als experimentelles und parodistisches Rockmusical mit grotesken Science-Fiction-Bestandteilen, bizarrem Humor und schrägen Schauspiel zunächst auf eine Kleinkunst-Bühne gebracht, bevor es 1975 als „Rocky Horror Picture Show“ in die Kinos kam. So nach und nach eroberte sowohl die Bühnenfassung als auch der Film die Herzen der Liebhaber schräger knallbunter Schrankenlosigkeit.

Die Handlung ist eigentlich banal:. Es ist ein verregneter Abend, als das frischverlobte naive Paar Janet Weiss und Brad Majors nach einer Autopanne Hilfe bei den Bewohnern eines nahegelegenen Schlosses suchen. Allerdings erwartet sie keine Gelegenheit zum Telefonieren, sondern eine illustre Gesellschaft. Allen voran der exzentrische außerirdische Wissenschaftler Dr. Frank N. Furter vom Planeten Transsexual aus der Galaxie Transylvania, der in dieser Nacht den Mitbewohnern seine bisher größte Schöpfung präsentiert – das blonde und muskelbepackte Retortenwesen Rocky. Erschaffen hat er es in erster Linie zu seinem Vergnügen – auch dem sexuellen. Dabei werden Janet und Brad nicht nur unfreiwillig Zeugen dieser Enthüllung, sondern geraten selbst auf eine Reise in nie geahnte (sexuelle) Sphären …

Die versierte Allround-Regisseurin Tamara Korber hält sich zum Glück streng an die Kult-Vorgaben, schafft ordentlich Tempo, setzt auf Lüsternheit und sorgt für flotten Szenenwitz.  Gut ausgeklügelte Lichteffekte unterstützen das gesamten Bühnengeschehens (nicht nur bei den sexischen Schattenspielen).

Das zur gewollt platten Handlung passende Bühnenbild ist zwischen Gruselschloss und experimentellem Maschinen-Labor angesiedelt, die flippigen Kostümen bewegen sich zwischen Burleske und Fetisch. Beide Ausstattungselemente hat wieder einmal Robert Schrag stimmig erdacht.

Die Choreographie von Irina Pauls hat Kraft, Dynamik und setzt die vorwiegend rockige Musik gut in zahlreiche Bewegungsabläufe und Gestaltungselemente um.

Die Rocky-Horror-Showband unter Leitung des musicalerfahrenen Markus Teichler begleitet nicht nur die zu Kult gewordenen Songs, sondern liefert einen kräftigen das Publikum mitreißenden Rocksound. Schade nur, dass die Musiker aufgrund der Bühnengröße versteckt hinter den Kulissen spielen mussten …

Auf der Bühne ein wohlaufgelegtes spielwütiges Ensemble aus hauseigenen Darstellern und Gästen, die das Spiel mit Vielfalt, Leidenschaft und Selbstbewusstsein vorantreiben, oft mit hinterhältigen Wesen, aber viel Spaß.

Mittelpunkt ist dabei Nick Körber als charismatischer, lüsterner Wissenschaftler Dr. Frank N. Furter – mit Korsett, Strapsen und Highheels. Vor allem aber begeistert er das Publikum mit seiner großartigen Rockstimme. Dabei drückt sowohl seine Stimme als auch sein Spiel wild-dynamische Schamlosigkeit und Dominanz aus. Dass er auch leise melancholische Töne kann, beweist er mit dem wohl schönsten (Abschieds)Titel des Stücks: „I`m Going Home“.

Weitere ausgezeichnete Musical-Darsteller sorgen sowohl spielerisch als auch gesanglich für freudige Stimmung.

Janet Weiss zeigt eine erstaunliche Verwandlung von einem biederen Mädchen zu einer Frau voller Sexualität. Ihre Verklemmtheit löst sich spätestens, wenn sie passgenau „Touch-a, touch-a, touch-a, touch me“ singt. Das alles wird von schüchtern bis frivol dargestellt und exzellent von Marie-Luis Kießling gesungen (übrigens zeigte Marie-Luis Kießling vor kurzen im Musical „Jekyll and Hyde“ am Nordharzer Städtebundtheater Halberstadt ihr Können).

Brad mit Kassengestell-Brille wirkt zwar schlau, hat aber soziale Defizite. Doch als er im Laufe des Abends in Fahrt kommt, wirbelt auch er (halbnackt) durch das Gruselschloss. Ach ja, und singen kann er auch noch phantastisch. Kein Wunder, ist es doch der Musical-Darsteller Maurice Daniel Ernst.

Der bucklige Diener Riff-Raff hat eine unterwürfige, aber diabolische Begabung. Er schöpft seine Energie aus seiner Unzufriedenheit gegenüber dem Schlossherrn. Genial, skurril gespielt und kraftvoll gesungen, z.B. beim mitreißenden „Time Warp“ von Maximillian Nowka, der vor einigen Jahren in dieser Rolle bereits auf den Greifensteinen brillierte (seit letzter Spielzeit auch im Musical „Die Schatzinsel“)

Magenta ist nicht nur die Schwester von Riff Raff, sondern eine ebenso mysteriöse wie anmutige Gestalt. Sie ist energisch und aggressiv … und fesselt das Publikum mit Gänsehaut-Stimme z.B. bei „Science Fiction Double Feature“. Schließlich steht doch die gelernte Musicaldarstellerin Daniela Tweesmann auf der Bühne.

Auch die anderen Rollen sind trefflich besetzt. So spielt die hauseigene Regieassistentin und Schauspielerin Lucia Reichard die überdrehte, unglückliche Columbia, sorgt Nenad Žanić als Dr. Scott für ausgelassenen Bühnenspaß, ist Philipp Adam der abgewrackte Rocker Eddie im Stil von Meat Loaf und zeigt sich Dominik Kwetkat als blondes Retortenwesen und Lustknabe erstaunlich beweglich und mit Muskelspiel, das bis zur letzte Reihe im Rang zu sehen war.

Und da gibt es noch eine neutrale Figur – den Erzähler: Marvin Thiede kommentiert das Handlungsgeschehen mit angenehmer Stimme und überlegener Lässigkeit. Dabei hat er viel Spaß, auf die beleidigenden Zuschauerreaktionen (langweilig – boring) mit trockenem Humor einzugehen.

Für flotte Bewegungen, Tänze und begleitenden Backgroundgesang sorgen buntschillernde Phantoms, Mitglieder des Extra-Balletts, die bereits bei zahlreichen Inszenierungen ähnlicher Shows ihr Multitalent bewiesen haben.

Wer also einen Mix aus Strapsen, Sex und mitreißenden Glam-Rock-Sound erleben möchte, sollte dem exzellenten Ensemble ins Grusel-Schloss „Winterstein“ folgen, denn dort gibt es ein fulminantes Rocktheater, bei dem die Zuschauer mitsingen, klatschen und tanzen können. Wo gibt’s das sonst?

„Let’s Do The Time Warp Again“

Manfred Riesche

Fotos: Dirk Rückschloß/BUR