Die mit dem Wolf singt

Tierisch gutes Musical „Grimm!“ am Eduard-von-Winterstein-Theater
Es trägt den Untertitel „Die wirklich wahre Geschichte von Rotkäppchen und ihrem Wolf“ (was zwar grammatikalisch falsch ist, aber so besser klingt).

Nicht nur in der Weihnachtszeit werden am Annaberger Winterstein-Theater Märchen gespielt (zuletzt „Peterchens Mondfahrt“ sowie „In Knecht Ruprechts Werkstatt“), nein auch jetzt im Februar 2019 kann man gleich drei altbekannte Kindergeschichten erleben, allerdings völlig durcheinander gewürfelt und auch nicht so, wie man sie allgemein kennt. Denn auf der Bühne wird die wahre Geschichte von „Rotkäppchen und dem Wolf“, einschließlich „Der Wolf und die sieben (jungen) Geißlein sowie „Die drei kleinen Schweinchen“, erzählt.
Gemeint ist das Musical „Grimm!“, ein Stück von Peter Lund (Text) und Thomas Zaufke (Musik), das 2014 in Graz am Kinder- und Jugendtheater uraufgeführt wurde.

Also, es war einmal:

… ein 14jähriges pubertierendes Mädchen namens Rotkäppchen. Stopp, falsch! Das Mädchen heißt Dorothea; Rotkäppchen ist nur ihr Spitzname, und den hat sie gründlich satt. Und überhaupt: Sie fühlt sich nicht so recht wohl in dem Dorf, wo sie lebt. Alle, ob Hofhund, Geiß oder Schweinchen, sind so kleinkariert, spießig und angepasst…
Und das ist Dorothea nicht. Warum immer nur das gleiche tun, warum nicht mal etwas, was Spaß macht, aber verboten ist… vielleicht mal in den „dunklen“ Wald gehen. Mal sehen, ob es stimmt, dass dort ein unsympathischer und besonders gefährlicher Wolf namens Grimm haust.
Aber da will Rotkäppchen – Verzeihung Dorothea – hin. Trotz Warnung ihrer tierischen Freunde  macht sie das auch und trifft im Wald einen durchaus angenehmen, coolen und gutaussehenden Wolf. Nachdem er sie abgeschleckt und beschnüffelt hat (Wolf beeindruckt: „Du riechst gut!“ – Doro leicht frech: „Gut im Sinne von frisch geduscht oder appetitlich?“), beginnt die wahre Geschichte von Rotkäppchen ähh Dorothea und dem gar nicht grimmigen Wolf Grimm. Wer hat nur gesagt, der Wolf sei das Symbol des Bösen und warum? Gerüchte und Vorurteile gegen Unbekannte, Fremde? Das will das Mädchen nicht hinnehmen, zumal sich beide – Dorothea und Wolf – ineinander verlieben.
Dorothea-Rotkäppchen ist fest entschlossen ihre neuen Einsichten und Erkenntnisse nicht nur den Dorfbewohnern zu vermitteln, sondern Grimm in die Gemeinschaft zu integrieren. Dabei ahnt sie nicht, dass ihr Anliegen und deren Umsetzung massive Schwierigkeiten und Veränderungen im intriganten Dorfleben bewirken….

(Welche das sind, sollten sich die Besucher im Theater selbst anschauen.)

In der Inszenierung von Dauergast-Regisseurin Tamara Korber spielt und singt Dauergast-Musical-Darstellerin Kerstin Maus die Dorothea und der hauseigene Musical-Darsteller Nick Körber den Wolf.
Tamara Korber kitzelt aus der absurden Geschichte viele kleine Pointen heraus, führt die (tierischen) Figuren leicht und locker, sorgt für Tempo und schafft gemeinsam mit Ausstattung – adäquate Kostümierung, sparsames Bühnenbild – (Robert Schrag) und stimmig-fröhlicher Choreografie (Stefan Haufe) ein ganzheitliches heiter-nachdenkliches Bühnengeschehen.
Passend zum Stück spielt auch eine Maus mit: Kerstin Maus. Allerdings nicht wie man annehmen könnte in einer tierischen Rolle, sondern als Doro mit dem roten Käppchen. Sie ist in ihrer  Rolle kess, aufgeweckt und äußerst sympathisch. Sie überzeugt mit fundiertem Spiel und großartigem Gesang – „So viele Wege“ und „Du bist mein bester Freund“.
Als Wolf trumpft Nick Körber auf. Durch Gestalt, freigeistiges Auftreten, teils mit wild-animalischem Charme, spielt er den Grimm kämpferisch und überzeugt dabei (trotz Erkältung) mit erstaunlicher Gesangsleistung („Sei ein Wolf“ mit Kerstin Maus, Solo-Titel „Grimm“). Perfekte Besetzung.

Und dann gibt es noch ein ganzes Panoptikum an tierischen Gesellen.

Sultan, der etwas betagte Hofhund und ehrenamtlicher Bürgermeister (Nenad Žanić) strahlt Ruhe und väterliche Autorität aus und singt auf ehrwürdige Art „Die Geschichte vom alten Wolf“.
Rex, sein Sohn und von Beruf Jagdhund (Marvin Thiede) lässt sich gern lieber mal kraulen statt zu jagen, wird aber später munter, als er seinen eingeschlafenen Instinkt wiederentdeckt. Da dreht er so richtig auf und schmettert gemeinsam mit Grimm: “Ich hab‘ Blut geleckt, es hat gut geschmeckt“.
Gisela Geiß (Elisabeth Merkstein), alleinerziehende Mutter von sieben oder doch nur sechs? Geißlein (Bianca Arnold/Jana Burkert, Elisabeth Gehlert und Lisa Grellmann/Franzy Roscher) versucht mit Meckern, Erotik, Gesang, Tango und erzgebirgischer Mundart den Wolf zu bezirzen (gelingt nicht) – „Die alte Geschichte“
Schweinchen Schlau (Philipp Adam) ist hinterlistig und fies. Gern möchte es ein großer Machthaber sein. Und es nennt sich zwar schlau, ist aber nicht besonders helle.
Schweinchen Doof (Maurice Daniel Ernst) ist ein liebens- und zugleich auch ein bedauernswerter Geselle. Aber als ihn der Wolf in den Hintern beißen soll, erwacht er nicht nur aus seiner verträumten Welt, sondern auch aus seiner sexuellen Verklemmtheit. Dazu singt er ausgesprochen gut das Lied von „Didis Krise“.
Schweinchen Dicklinde (Marie-Luis Kießling), das eigentlich gar nicht so überrunde Schweinslendchen hat, schmachtet nach der Wildsau, die naturgemäß nicht zur dörflichen Gemeinschaft gehört. Und so ist es eine verbotene Liebe. Denn die darf es nicht geben – zwischen Hof- und Waldtier und auch nicht zwischen zwei Frauen.
Schweinchen Wild (Isa Etienne Flaccus) ist im wahrsten Sinne des Wortes eine wilde Sau. Sie wirbelt im gruftigen Punk-Look durch Wald und Flur, zeigt dabei Elemente von Ballett und Modern Dance, benimmt sich ungehobelt… Und liebt Schweinchen Dick. Wunderbar der schweinische Walzer „Schwein gehabt“ von M-L.K. und I.E.F. (die Namen sind zu lang).
Oma Eule (Marie-Louise von Gottberg) ist sowohl ausgeflippt als auch weise (deswegen kluge Eule). Sie möchte Frieden stiften zwischen den verschiedenen Wesensarten, zwischen Dorf und Wald, Tieren und Menschen, Einheimischen und Fremden … Das gelingt M-Lv.G (der Name ist zu lang) nicht nur im Spiel, sondern auch mit ihrer angenehmen rauchig-warmen Stimme bei dem Titel „Ein besseres Märchen“.

Die Musik des Musicals ist facettenreich. Da gibt es Swing, Walzer, Tango, Balladen, kleine Arien, barocke Sequenzen… Die einzelnen Titel sind so komponiert, dass fast alle singenden Tiere und das Rotkäppchen Doro entweder ein Solo oder größere Gesangsparts haben. Begleitet werden diese Nummern von einer einheizend-spritzigen Band unter Leitung von Markus Teichler.
Das Spiel der Band und die Leidenschaft der Akteure sorgen für ein bewegendes Theater mit witzigen Dialogen, flotten Tänzen, schönen Liedern.
In der teilweise überdrehten Geschichte werden auf humorvolle Art und Weise alte Traditionen und neue Gegensätze beleuchtet und aufs Korn genommen. Wer oder was ist gut oder böse, tapfer oder feige, schlau oder dumm.
Diese Unterschiede in Einstellung, Herkunft, sozialer Stand werden in dem Musical und der Inszenierung deutlich. Deshalb  ist „Grimm!“ unterhaltsam und gleichermaßen anspruchsvoll.

Und im Winterstein-Theater wurde noch nie so viel gejault, gegrunzt und gemeckert. Tierisch gut.

 Manfred Riesche

 

 

Fotos: Christian Dageförde